Es ist der letzte Kindergartentag im Juli 2023. Und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Warum habe ich unsere Anwältin eigentlich nicht darauf angesetzt, dass unser autistischer Sohn noch ein weiteres Jahr als Integrations-Kind im Kindergarten bleibt? Er ist überhaupt nicht schulreif und wird die Anforderungen der ersten Klasse nicht schaffen. Ich versuche verzweifelt sie zu erreichen, während uns die Zeit davonläuft. Der Abschluss ist schön, mein Sohn ist verzweifelt. Aber nur für diesen Tag – danach: aus den Augen, aus dem Sinn.
Jahrelang habe Jahre ich dafür gekämpft, dass er an eine private Freilernerschule kommt. Der Platz an der Schule ist gesichert, mein Antrag auf eine persönliche Assistenz zum Schulbeginn wurde vom Jugendamt jedoch lachend abgelehnt. Die Frage nach einem persönlichen Budget ebenfalls – sowas würde man höchstens einmal im Jahr bewilligen. Interessant, gilt das Sozialrecht hier also nicht?
Unsere Anwältin reist zum gesetzten Jugendamtstermin an und begleitet mich – immer noch keine Einwilligung. Also verbringe ich die Monate März bis Juli damit, gegen den Landkreis sozialrechtlich vorzugehen. Schlussendlich entscheidet das Gericht im Eilverfahren per einstweiliger Verfügung über die Notwendigkeit einer Schulbegleitung und verfügt das persönliche Budget. Diese Runde im Kampf ist also gewonnen (von den Kräften, die mich das gekostet hat, sprechen wir lieber nicht). Wir suchen also eine Assistenz, stellen sie ein. Unser Sohn wird eingeschult.
Nach dem Schulstart spitzt sich die Situation mit unserer Tochter zu. Irgendwas stimmt nicht, aber ich weiß nicht was. Ich kann es nicht einordnen. Sie hat keine Lust mehr auf den Kindergarten. Alles langweilt sie. Sie sitzt aber auch nicht still, ist immer in Bewegung. Bei Körperkontakt ist sie stets zu nah dran, redet dazwischen und übernimmt oft eine Elternrolle gegenüber ihren Geschwistern. Eine Begabungsdiagnostik ergibt Hochbegabung. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Wir sind bestimmt nicht doof, aber Hochbegabung? Hier auf dem platten Land … na toll! Währenddessen wird ihre Situation im Kindergarten immer schwieriger. Sie findet keinen Anschluss. Denkt immerzu, dass niemand mit ihr spielen will. Irgendwann will sie gar nicht mehr hin. Irgendwann finde ich mich weinend am Wäschetrockner wieder, weil ich den Lärm und Streit nicht mehr aushalten kann. Ich rufe einen befreundeten Kollegen an. Er kommt am nächsten Tag und sagt mir sehr klar: Deine Tochter ist Autistin. Ich kann es nicht glauben. Autismus hätte ich doch gesehen. Gerade ich, als Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin! Bei unserem Sohn wusste ich mit 9 Monaten, dass er Autismus hat. Bei meinem Mann hatte ich ebenfalls früh einen Verdacht und nun soll ich das nicht gesehen haben?
Ich rufe einen fähigen Kinder- und Jugendpsychiater an. Wir haben Glück und können zwei Wochen später zum Diagnostiktermin kommen. Die Diagnose ist eindeutig: Asperger-Autismus, ADHS und hohe Begabung. Ich nehme meine Tochter aus dem ungeliebten Kindergarten und lasse sie nachträglich einschulen, damit sie sich nicht mehr so langweilt. Das Schulamt stimmt zu, die Schule beteuert, sie kriege das hin. Also los!
Tag 1: Es gibt keinen Sitzplatz, keinen Paten, dafür drei Seiten Hausaufgaben und die Erwartung, dass sie mit ihrer Begabung ja alles können müsse. Hier kommt PDA-Symptomatik ins Spiel. Ihrem Lehrer fehlt die Fähigkeit zur Beziehungsaufnahme, dazu kommt Leistungsdruck. Das schickt unsere Tochter innerhalb kürzester Zeit in den Motivationsverlust. Nach drei Tagen will sie nicht mehr hin. Hausaufgaben verweigert sie vollständig. Ein Gespräch mit der Schule ergibt, ich solle mich raushalten aus den Hausaufgaben und dann müsse sie halt zum Lehrer und „sich schämen“. Überraschung! Die Methode funktioniert nicht. Meine Tochter muss jetzt (in der 1. Klasse!) ihre Hausaufgaben in der Pause nachholen. Die Folge: Sie hört auf zu essen und entwickelt ARFID. Das ist nun fünf Monate her. Ein weiteres Gespräch zeigt, dass der Lehrer die Problematik nicht ernst nimmt. Aus Angst davor, dass die Schule die Situation so weit eskalieren lässt, dass wir uns mit der Forderung nach Kinder- und Jugendpsychiatrie konfrontiert sehen, melde ich meine Tochter ebenfalls auf einer Privatschule an.
Währenddessen haben wir von der Freilernerschule unseres Sohnes völlig unvermittelt die Kündigung bekommen, mit einer Frist von zwei Wochen. Ohne Begründung und mit Verweigerung jedes Gesprächsangebots. Sie berufen sich auf die Probezeit. Es trifft mich völlig unvermittelt. Sein darauf folgender kurzer Ausflug auf die Regelschule meiner Tochter gipfelt in der Aussage der Sonderpädagogin: „Und der soll autistisch sein? Der ist doch kein Autist. Autisten verhalten sich anders.“ Dieser Ausflug dauert einen Tag – und auf solche Aussagen habe ich keine Lust mehr. Also gehen beide gemeinsam an die nächste Privatschule (an der ich meine Tochter schon angemeldet hatte) und werden sogar ohne Wartezeit aufgenommen. Ich spüre Erleichterung und denke: Wir haben diesmal einfach Glück. Dieses Gefühl hält für ca. 3 Wochen an. Dann zeigt sich, dass die Klasse aus vielen schwierigen Kindern besteht und die Klassenlehrerin versucht irgendwie, alle zu retten. (Die Schule nimmt explizit Kinder mit schwierigen Perspektiven auf – scheitert dann jedoch daran). Völlige Überforderung im täglichen Geschehen, keine Ruhe, viel Geschrei von beiden Seiten. Das schaue ich mir einige Wochen an. Meine Versuche, die Situation schulintern zu klären, scheitern. Ich solle mich an die Klassenlehrerin wenden. Gleichzeitig wird mir jedoch gesagt, man könne mit ihr nicht reden und sie wolle nichts klären. Ok, also wieder nur zwei Möglichkeiten: Aushalten und zulassen, dass die Kinder Schaden nehmen, oder etwas sagen und dann die sein, die sich immer beschwert. Die, die unbequem ist. Schließlich erreicht uns auch hier die Kündigung. Das war klar.
Wir werden es nun nochmal mit außerbezirklicher Beschulung versuchen. Gerade stellt sich die Frage, ob wir wieder vor Gericht müssen für eine weitere Schulbegleitung. Unser Sohn möchte gern die erste Klasse wiederholen, unsere Tochter nicht.
Und was bedeutet das alles für mich? Ich bin die, die sich immer beschwert. Die, die schon wieder was sagt. Sich nicht zufrieden gibt. Aber habe ich nicht die Pflicht dazu – im Sinne meiner Kinder? Um es in den Worten unserer klugen und fähigen Anwältin zu sagen: Wenn nicht mal das Grundrecht auf Unversehrtheit gegeben ist, ist es nicht der richtige Ort für deine Kinder (oder irgendwen sonst). In diesem Sinne werde ich immer weiter das Wort erheben und mich nicht einfügen in das kollektive Schweigen. Es geht um die psychische Gesundheit meiner Kinder – die setze ich nicht aufs Spiel. Was die Ansprüche ans Bildungssystem angeht: Die habe ich aufgegeben. Ich möchte nur noch, dass unsere Kinder die Grundschule überstehen und dann haben wir vielleicht eine Chance auf Online-Beschulung oder wir müssen doch woanders hin. Die Grundfrage dabei bleibt ja, warum Deutschland immer noch mit Präsenzschulpflicht arbeitet, während das Schulsystem implodiert und kollabiert. Wir können es uns gesellschaftlich nicht leisten alle autistischen Menschen auf das Behindertengleis abzuschieben und durch das System fallen zu lassen. Das bringt mich zu einer anderen Geschichte, aber die vielleicht ein anderes Mal.
In diesem Sinne, eure Claudia.
Spektrum: ADHS
Hobbies:
Puzzlen (bevorzugt 8000 Teile und mehr)
mein Hund
Rad fahren
Laufen
vielzählige Interessen vor dem ADHS Hintergrund