Chamäleon

Ich stamme aus einer recht wohlhabenden Großfamilie, bin die zweitälteste von sechs Geschwistern. Als Kind war ich die ruhigste und unauffälligste von allen – eigentlich auffällig unauffällig! Mein stets freundliches Dauerlächeln, ohne andere nach Außen gezeigte emotionale Regungen, ließ durchaus Verborgenes erahnen. Mein autoritärer Vater unterdrückte aber jegliches Aufbegehren durch seine unberechenbaren Erziehungsmethoden inklusive Körperstrafe. Und die (Für-)Sorge meiner Mutter wurde durch seine Devise „nur ja nicht auf die Tränendrüsen drücken“ erfolgreich abgetan – bei sechs Kindern, wer will da schon Probleme heraufbeschwören? Schließlich war ich die Einzige, die scheinbar problemlos alleine mit sich klarkam, genügsam und pflegeleicht war, kaum Ärger machte und in der Schule auch noch durchschnittliche bis sehr gute Leistungen brachte.

Mit dem Auszug von zu Hause, mit 19 Jahren, zeigte sich dieses auffällig unauffällige Kind plötzlich ganz anders: Eine unbekannt rebellische, unbeugsame und wilde Seite drängte sich nun mit unglaublicher Wut an die Oberfläche und richtete das liebe Kind einige Jahre lang bis fast zur Unkenntlichkeit zu Grunde – so nahm es mein Umfeld wahr. Ich selbst erlebte neben einigen traumatischen Erfahrungen auch die Befreiung des verborgenen, unterdrückten Teils in mir.

Die wilden Jahre gingen vorbei. Ich wurde „richtig erwachsen“, heiratete, hörte auf zu trinken und zu rauchen, wurde Mutter von zwei wunderbaren Mädchen und erhielt einen tollen Teilzeitjob im Sozialbereich. Mir war es wichtig, meinen Töchtern das Vorbild einer selbstbestimmten starken Frau zu sein. Sie sollten, anders als ich, später keinen Selbstbefreiungskampf führen müssen. Also passte ich mich motiviert der Norm der Super-Mutter an. Jedoch so sehr, dass ich mich unter meiner selbst auferlegten Maske kaum mehr spürte. Es zählte nur noch die ideale Mutter, Ehefrau, Hausfrau und Arbeitnehmerin, Kollegin, Tochter, Schwester und Freundin.

Mein tiefer Drang, mich für etwas Bedeutsames zu engagieren, aber auch die Sehnsucht nach Anerkennung, trieben mich in den folgenden Jahren in Herausforderungen, die weit außerhalb meiner Komfortzone lagen. „Plötzlich“ hatte ich den Teilzeitjob gekündigt, war stattdessen Gemeinderätin unserer neuen Wohngemeinde, Präsidentin zweier weiterer milizpolitischer Gremien und aktives Mitglied diverser Arbeits- und Projektgruppen. Privates Engagement in gemeinnützigen Vereinen durfte auch nicht fehlen. Endlich konnte ich meine vielfältigen Fähigkeiten beweisen. Sogar mein Vater war beeindruckt von seiner früher so unscheinbaren und nun in der Öffentlichkeit engagierten Tochter. Eine große Genugtuung für mein ungesehenes inneres Kind – die traurige Ironie darin erkenne ich erst heute. Allmählich gerieten meine psychische Gesundheit und unsere Familienbeziehungen immer mehr in Schieflage.

Ich war 37 Jahre alt, inzwischen Mutter von Primarschulkindern, da zwangen mich unendliche Erschöpfung und heftiger werdende depressive Episoden dazu, nach meinem vermissten wahren ICH zu suchen. Diese Suche führte mich in den folgenden zwei Jahren zu meinen späten Diagnosen. ADHS im November 2021, ASS im Mai 2023. Seit der zweiten Diagnose ASS verstehe ich erst bewusst, dass mein wildes und mein zurückgezogenes ICH beide gleichermaßen zu mir gehören – wie zwei Seiten derselben Medaille, wie Yin und Yang. Es gibt sie beide nur eng verschlungen, und doch sind sie grundverschieden.

Die Gegensätzlichkeit, die ich in mir vereine, ist eine meiner größten Herausforderungen: Sie stellt mich täglich vor eine innere Zerreißprobe. Ausgeglichenheit im Wahrnehmen und Fühlen kenne ich nicht. Aber sie ist auch eine meiner größten Stärken: Sie macht mich unglaublich wandelbar und anpassungsfähig. Ich bin äußerst vielseitig interessiert und kann fast alles lernen und schaffen, wenn ICH aus mir heraus nur unbedingt will. Jede meiner Schwächen hat auch ihre Stärke und jede Stärke auch ihre Schwäche – «es chunnt halt immer ganz uf d’Situation druf ah ….»

Huiii … gerade habe ich eine spontane Eingebung: Ich bin ein Chamäleon!

Ein Chamäleon, das je nach Umfeld und Situation diese oder jene Farben seines natürlich angelegten Farbspektrums zeigen kann. Das Bild des Chamäleons zeigt mir gerade auf, dass meine Maske nicht nur ein störender, einschränkender und erschöpfender zusammengebastelter Fremdkörper ist, der an mir haftet. Sie bedient sich neben all dem «abgeschauten Verhaltens-Dingsda» auch an meinen natürlichen Anteilen und kann – immer unter der Voraussetzung von gut ausgewogenen Lebensumständen – sogar helfen, diese zur Entfaltung zu bringen. Die ADHS-Eigenschaften, welche die Maske vorwiegend abbildet, ergeben gepaart mit dem analytischen Denken, der Sachlichkeit und dem Verantwortungsbewusstsein der ASS-Eigenschaften eine nahezu perfekt neurotypisch wirkende Person. Ich kann meiner Maske also auch dankbar sein – sie hat mir ermöglicht, 40 Jahre lang in der Gesellschaft erstaunlich erfolgreich zu bestehen. Den Preis dafür muss trotzdem ich bezahlen – die Erschöpfbarkeit wird wahrscheinlich für immer stark erhöht bleiben und einige Fähigkeiten wie flexiblere Aufmerksamkeitslenkung oder längere Konzentrationsfähigkeit habe ich vermutlich unwiederbringlich eingebüßt. Aber heute bin ich eine Lebenskünstlerin! Ich bin bunt und vielfältig und ich liebe mich genau so!

Lernen die Farben in mir nun noch, sich miteinander zu neuen Farben zu vermischen – also sich besser untereinander abzusprechen, einander ernst zu nehmen und füreinander mitzudenken –, kann ich hoffentlich ein Leben führen lernen, in dem ich alle meine gegensätzlichsten Bedürfnisse wahren und erfüllen kann. Ich bin stolz darauf, was ich alles erreicht und durchgestanden habe, trotz der erheblich erschwerten Bedingungen durch die Gesellschaft.

Und würde die Gesellschaft genauso wie wir erkennen, wie viele wunderschöne Farben unter ihren eintönigen Erwartungen verschüttet liegen … Ich bin fest davon überzeugt, wir neurodivergenten Menschen könnten zusammen mit den neurotypischen Menschen die Welt nachhaltig verändern. Wir, die neurodiverse Menschheit, könnten im gesamten Farbspektrum leuchten, würden wir nur etwas mehr Staunen zulassen, über all die prächtigen unterschiedlichsten Farben in dieser Welt.

Bunte Grüße an euch wunderbar bunte Menschen!

Berni

P.S.: Meine Ämter habe ich auf Ende Jahr 2023 übrigens alle abgegeben und widme mich aktuell ein paar Monate mir selbst sowie meinen Spezialinteressen …

Spektrum
Autismus und ADHS

Hobbys
Meine Familie
Wie ticken Menschen? – lernen am Modell
Gesellschaftsthemen, Politik und Religion
Alles was länger als 40 Jahre her ist
Kreatives aller Art
Musik hören, Violine spielen und singen
Serien und Dokus schauen (psychologisch, biografisch oder wissenschaftlich
angehaucht)
Und so vieles mehr…