Ich wusste schon immer, dass ich anders bin. Aber in meiner Familie gab es meinen älteren Adoptivbruder (sehr anspruchsvoll, sehr anders), meine vietnamesische Pflegschwester (mit ihren Traumata und Herausforderungen) und meine beiden älteren Geschwister. Ich wollte also meinen Eltern nicht noch mehr Sorgen bereiten. Ich kompensierte, ich maskierte. Nur in einem Punkt konnte ich das nicht: die Unterhosen! Und ja, auch die kratzigen Pullis! Die Hosen, die im Schritt nicht satt saßen! Und – für immer unvergessen – der Regenoverall, den zu tragen ich mich rundweg geweigert habe (obwohl er sicher sehr praktisch gewesen wäre). Meine Eltern gaben nicht viel auf meine Probleme mit den unbequemen Kleidern. Ich sollte nicht schwierig tun, die Sachen einfach anziehen. Ende der Diskussion. Ich blieb mit meinem Unwohlsein und meinem Frust allein.
Als ich schwanger war, habe ich mir geschworen: Meine Tochter wird nie, niemals!, unbequeme Kleider tragen müssen. Ich verbrachte also viel Zeit in Kleidergeschäften (obwohl mir shoppen und insbesondere Einkaufszentren ein Graus sind). Sehr viel Zeit.
Zu Hause erwiesen sich die sorgfältig ausgesuchten Teile oft genug als untragbar. Die Hosen ließen wir irgendwann ganz weg und dankten inbrünstig dem Menschen, der gefütterte Leggins für Kinder erfunden hat. Wie oft meine Tochter mitten im Winter das Haus mit einem dünnen Sommerkleidchen verließ, mag ich mir gar nicht mehr vorstellen.
Als das Zeitbudget für das Anziehen von Socken jeden Morgen eine halbe Stunde überstieg, fragte ich endlich doch bei der Kinderärztin nach. Die verwies uns mit Verdacht auf Zwangsstörungen an den Kinderpsychiatrischen Dienst. Zum Glück. Zum Glück so früh. Denn dort lernte ich: Mit meinem Wunsch, die Verletzungen meiner Kindheit zu kompensieren, hatte ich meiner Tochter das Leben zusätzlich schwer gemacht – während meine Eltern intuitiv (oder aus Zeitnot) richtig reagiert haben.
Bei Zwängen, so lernte ich, hilft nur eins: Es trotzdem tun. Widerstehen. Sich immer wieder exponieren. Denn sonst ist die Gefahr groß, dass diese Zwänge immer mehr Lebenszeit auffressen. Nach und nach entdeckte ich auch meine eigenen versteckten Zwänge. Dinge, die ich tat, weil ich dachte, ich könnte nicht anders. Zum Beispiel schleppte ich jahrelang eine Campingmatte mit in jeden Urlaub, weil ich nur in meinem eigenen Bett – oder eben auf dieser Matte – schlafen konnte.
Hätte ich damals, als meine Tochter klein war, mehr über Neurodiversität gewusst, dann hätte ich wahrscheinlich besser auf sie eingehen können.
Denn Fakt ist: Die Wahrnehmung hat recht. Immer. Unbequeme Kleider sind unbequem. Sie kratzen, sie pieksen. Punkt.
Fakt ist aber auch: Dieses Gefühl wird vom Hirn gesteuert und das Hirn verliert das Interesse, wenn es gelingt, den Fokus auf etwas anderes zu lenken.
Trotzdem bin ich froh, dass ich niemals zu ihr sagte: „Tu nicht schwierig. Zieh es einfach an.“ Das hatte ich selbst oft genug gehört. Aber anziehen musste sie sich trotzdem. Je mehr ich mich mit dem Gedanken auseinandersetzte, desto mehr sah ich, wie sich ein Mittelweg auftat. Ich fing an zu sagen (auch zu mir selbst): „Ich sehe, dass das sehr schwierig ist für dich. Aber halte durch. Vertraue darauf, dass dieses Gefühl nachlässt, wenn du es eine kleine Weile länger aushältst – und freue dich über die Freiheit, die du dadurch gewinnst.“
Diese Zwänge sehe ich heute als eine Begleiterscheinung meiner Neurodivergenz irgendwo zwischen Autismus und ADHS. Sie entstehen aus einer erhöhten Sensitivität und aus einer Vorstellung davon, wie es sein muss, wenn es richtig ist. In meinem Fall davon, wie sich eine Hose/Unterhose anzufühlen hat.
Ich neige dazu, Dinge abzulehnen, die einmal schlecht funktioniert haben, und ich neige dazu, Dinge zu wiederholen, die sich bewährt haben. Gut eigentlich. Aber manchmal eben auch einschränkend. Denn mein Hirn ist äußerst motiviert, mich vor unangenehmen Gefühlen zu schützen. Wenn ich mich früher nur schon probeweise in ein Hotel-Bett gelegt habe, gingen alle Alarmglocken an, die Sensorik wurde sofort auf „äußerst empfindlich“ eingestellt. Nach zwei Minuten verkrampfte mein Rücken, nach einer halben Nacht war die Knochenhaut an meinen Hüften so sehr entzündet, dass ich vor Schmerzen in Tränen aufgelöst war. Die Schmerzen waren real – aber die Wahrnehmung wurde von meinem Hirn gesteuert. Das wusste ich eigentlich, aber den Mut etwas daran zu ändern, fand ich nicht. – Bis ich an einem entsetzlichen Tag vor zwei Jahren feststellte, dass ich meine Campingmatte vergessen hatte.
Es dauerte drei unendlich lange, schlaflose Nächte, in denen ich mir geduldig versicherte, dass alles gut war. Dass ich mich entspannen darf. Dass die Schmerzen nachlassen werden, sobald es mir gelingt, mich anders zu fokussieren. – Und sie taten es.
Der Lohn ist ein Stück mehr Freiheit, ein Stück mehr Selbstermächtigung. Was ich in den letzten Jahren über Neurodiversität gelernt habe, hilft mir jeden Tag, mich selbst und mein Leben besser zu verstehen. Für mich ist manches schwierig, was anderen leicht fällt. Und manches fällt mir leicht, womit andere kämpfen. Dieses Verständnis für mich selbst und mein Anderssein ist der wichtigste Schritt für ein gutes Leben.
Herzliche Grüße
Noemi
Spektrum
Eine Dosis Autismus, evtl. gewürzt mit ADHS
Hobbys
Meine Wohnung mit denen anderer Menschen tauschen
Über das Leben an sich nachdenken
Geschichten erfinden
Alte Möbel renovieren