Ich bin die Älteste von elf Kindern. Darum war und ist Verantwortung ein wichtiges Thema in meinem Leben – vor allem Verantwortung für andere. Für mich selbst Verantwortung zu übernehmen, das habe ich viel später gelernt.
Weil wir so viele waren und meine Eltern uns nach ihren religiösen Werten erzogen haben, gab es schon immer Unterschiede zu den anderen Kindern in der Schule. Darum fiel mir lange gar nicht auf, dass ich wohl auch sonst anders funktioniere.
In meinen Jugendjahren war ich eine „Rebellin“, ich wollte mich von den Begrenzungen meiner Erziehung befreien. Obwohl ich leicht lernte und gute Noten schrieb, brach ich das Gymnasium ab. Ich wollte frei sein und meine eigenen Grenzen erkunden und hatte überhaupt keine Lust, mich in die Gesellschaft einzufügen, zu der ich mich eh nicht zugehörig fühlte. Auf verschiedene Arten war ich einfach anders als die meisten Menschen.
So wählte ich einen Beruf, in dem ich mit Menschen arbeiten konnte, die auch anders waren. Ich wurde Fachfrau Betreuung und kümmerte mich um Menschen mit diversen Beeinträchtigungen. Mit diesen Menschen hatte ich das Anderssein gemeinsam, so konnte ich mich verbinden.
Später wurde ich Mutter von drei Kindern, alle neurodivergent, was neue Aufgaben mit sich brachte. Mein Weg war erst mal der in die Beratungen und Abklärungsstellen. Wir bekamen Diagnosen und Therapien. Ich informierte mich und versuchte, all die Konzepte umzusetzen, die mir empfohlen wurden. Trotzdem wuchs das Gefühl der Überlastung und ich suchte immer verzweifelter nach Hilfe. Nichts entsprach mir wirklich, nichts half nachhaltig.
Oft war ich kurz davor, davonzulaufen. Ich war dauerüberlastet und meine eigene Neurodivergenz zeigte sich immer mehr, da ich sie nicht mehr kompensieren oder verdrängen konnte. Ich konnte und wollte mich nicht schon wieder auf neue Strategien oder Konzepte einlassen, die mich nicht überzeugten. Da ich aber zu dieser Zeit nichts anderes fand, führte der Weg in den Burnout und in eine Phase der Verweigerung. Ich wollte einfach gar nichts mehr tun und vor allem – keine Verantwortung mehr übernehmen. Ich saß die meiste Zeit am Tisch und starrte in mein Handy oder drehte Runden um den Küchentisch, so als wollte ich die Gedanken abbilden, die in meinem Kopf Karussell fuhren. Wie ich es auch drehte und wendete, ich sah nur unüberwindbare Hindernisse und keine Lösungen. Trotzdem war da ein Wissen, dass ich meine Aufgabe bekommen habe, um sie zu meistern. Und wie ich schon zuvor gespürt hatte, war mein Weg ein besonderer, einer ohne Therapien und Konzepte für den Kopf. Ich wollte nicht denken, ich wollte machen, wollte vorwärtsgehen.
Und ich fing an, die Verantwortung für mich selbst zu übernehmen und mich mit meinem Wesen zu verbinden. Das war und ist immer noch sehr anstrengend, es ist ein Weg in die Tiefe und ich lerne alles ganz neu und anders. Ich nehme Dinge wahr, die anderen nicht auffallen, und das muss ich bearbeiten und ordnen, jede Minute, jeden Tag. Das kann mir kein Therapeut abnehmen. Ich muss es selbst tun.
Dieser Weg hat für mich alles verändert, es ist eine Veränderung in mir selbst, die nach Außen unscheinbar wirkt. Neurodiversität bedeutet für mich, meine besondere Wahrnehmung als Fähigkeit anzunehmen, sie zu ordnen und zu nutzen. Damit übernehme ich Verantwortung für meine Neurodivergenz und für mein Leben. Durch das Ordnen entsteht Harmonie. Meine eigene kleine Welt als Produkt der Harmonie – so wie die Quantenphysiker des Max-Planck-Instituts sie mit ihrer Stringtheorie beschreiben.
Jael
Spektrum: neurodiverse Vielfalt!
Hobbys:
wahrnehmen und ordnen
japanische Schwertkampfkunst
Musik hören und mitsingen
in der Badewanne liegen