Riesig

Am 24.02.2024 erhielt ich eine Mail von Noemi. Sie offenbarte mir die wunderbare Idee, einen Blog zu starten. Das Thema soll sein: Meine Neurodiversität. Ich befand mich in Mittagspause und schlenderte entspannt durch den Englischen Garten in München. Noch beseelt von der Erfahrung, vor wenigen Minuten meine eigene Ressourcengallerie visualisiert zu haben (ich absolvierte gerade die 2. Einheit einer Fortbildung in SchemaCoaching), schrieb ich, so spontan wie euphorisiert zurück, dass ich dabei wäre. Abends kam dann die Antwort von Noemi: »Oh prima, das freut mich sehr! Der nächste Newsletter erscheint in der ersten Märzwoche. Denkst du, du schaffst das?«
Ich dachte: »Natürlich schaffe ich das! Das ist ja irgendwann im März, eine Ewigkeit bis dahin.« Dann nahm ich mir vor, Noemi zeitnah zu antworten, dass ich das easy hinbekomme.

Ich nahm mir vor und easy sind für mich so was wie paradoxe Scheinriesen. Kennt ihr den Scheinriesen Herrn Turtur aus Jim Knopf? Von Weitem wirkt er riesig, doch je näher man ihm kommt, umso kleiner wird er. Auf Lummerland drücken sie ihm eine Laterne in die Hand und stellen ihn an die Küste. Er fungiert dort als Leuchtturm. (An sich ist das ja schon eine Lösung, die hervorragend einem neurodivergenten Gehirn entsprungen sein könnte.) Das Paradoxe an
meinen Scheinriesen ist, dass diese, mit Abstand betrachtet, winzig wirken. Je näher sie aber kommen, umso größer werden sie.

Heute, am 1. März sind sie sehr groß, bedrohlich groß. Und das
auch noch überraschend plötzlich; sie wachsen nicht langsam, sie explodieren von gleich auf jetzt zu voller Größe, denn Zeitblindheit schließt schrittweises, kontrolliertes Wachstum aus.

Doch heute, am 1. März kann ich die Explosion ein wenig dämpfen. Heute ist Buddy Coaching mit Dr. Martin Winkler. Buddy Coaching ist die beste Intervention für paradoxe Scheinriesen, finde ich. Wir treffen uns für 1 Stunde und 15 Minuten online, meistens sind wir ca. 2-10 Personen. Zu Beginn stellen alle ihre Ziele für die nächsten 50 Minuten im Chat vor, dann arbeiten wir zielorientiert. Anschließend
treffen wir uns kurz zur Vorstellung unserer Ergebnisse, wohlwollend und motivierend.

Vor 4 Sätzen waren die 50min vorbei. Bin also noch nicht fertig, aber jetzt so hyperfokussiert, dass ich die Kuh nun vom Eis bringen werde! TSCHAKA! Diese Buddy Coachings (kennt man auch ähnlich als body doubling) funktionieren hervorragend, um Aufgaben zu beginnen und zu erledigen. Gerade für ADHSler, wie ich einer bin, macht diese Methode Sinn, denn wir tun uns oft leichter, etwas mit anderen oder für andere zu machen, zumal die Ergebnisse im Anschluss
»gefeiert« werden (#Dopaminfreisetzung).

Ich habe in der vorgegebenen Zeit aber nicht nur diese Zeilen geschrieben. Denn zuerst musste ich die Mail von Noemi genau durchlesen. Und siehe da: Mein Beitrag sollte nicht irgendwann im März fertig sein, sondern in der ersten Märzwoche (Jetzt
stellt sich der Riese auch noch auf die Zehenspitzen). Und ich verfasse nicht irgendeinen Beitrag für den Blog, nein, ich verfasse den ersten Beitrag. Ich bin quasi der Typ, der den Stapellauf der MS
Neurodiversity mit dem Wurf der Sektflasche gegen den Bug des Schiffes initiiert! (Ich wusste nicht, dass ein Riese auch noch eine Leiter dabei haben kann!)

Dann fiel mir beim genauen Lesen noch etwas auf, nämlich das Thema: Meine Neurodiversität. Sogleich ploppte ein ganzer Fragenkatalog auf: Habe ich eine Neurodiversität? Hat jemand anderes eine Neurodiversität? Kann man eine Neurodiversität überhaupt besitzen? Was zur Hölle ist Neurodiversität, wenn jede/r eine hat??

In einem Vortrag von Dr. Andre Zimpel, dem Leiter des Zentrums für
Neurodiversitätsforschung in Hamburg, sagte dieser: »Wenn Neurodiversität ignoriert wird, dann haben wir viele Probleme. Immer wieder stellen wir fest, dass wir keine Lernbehinderung oder
keine geistigen Behinderungen vorfinden, sondern dass wir Menschen haben, die einen anderen Bezug zur Welt herstellen. »Okay«, dachte ich mir, »das mache ich«. Aber (meine) Neurodiversität ist ja etwas komplexer und quasi so was wie der Endgegner der Neuronormalität. Oder umgekehrt. Vor meinem inneren Auge bekämpfen sich gerade ein animierter Zeichentrickgorilla und ein überdimensionales Walross im Wikingeroutfit. Final Boss-Fight! – Prokrastination durch
nintendobasierte Tagträumerei.

STOPP!

Muss gerade feststellen, dass die Beschäftigung mit den Neurodiversitätsfragen, mich in meinem Bestreben einen Artikel über Meine Neurodiversität zu verfassen, kein Stück weiterbringt (Lacht
mich der Riese aus?). Mir ist schon klar, dass ich die Frage easy in ein bis 38 Tagen beantworten könnte (wie putzig, ein ganz kleiner Riese), aber das soll jetzt mal warten. Kann es auch, denn ich
habe Bock auf diesen Artikel und ich habe Bock drauf, ihn fertig zu bekommen. Da geht das dann.

Anders sieht das bei Aufgaben aus, auf die ich keinen Bock habe: Rechnungen zahlen, aufräumen, Arztbesuche, einkaufen, Müll rausbringen usw. Da kann ich dann trefflich darüber philosophieren
warum und weshalb das alles sein muss. Oder ich vergesse es, finde Wichtigeres, vor allem Schöneres, Leckeres, Spannenderes, halt irgendwas mit »…eres« hinten dran. Und während ich den
kleinen Riesen am Horizont beim Herumtollen zusehe, drückt mir ein gigantischer, schwieliger Riesenfuß den Kopf unnachgiebig in den Sand!

Neurodiversität kann aus vielen Händen und Armen bestehen, die den Fuß anheben und dazu beitragen, dass einem das Atmen noch möglich ist. Und je gezielter und koordinierter wir uns dem Fuß entgegen stemmen, umso besser wird die Luft. Ich wünsche mir, dass wir im Verband mit vereinten Kräften in dieselbe Richtung drücken und jede/r seine individuellen Stärken einsetzen kann. Damit wir unseren Riesen auf Augenhöhe begegnen können. Denn Meine Neurodiversität ist deine Neurodiversität und deine ist meine, weil wir alle neurodivers sind und uns das verbindet.

Beste Grüße
Andi

Spektrum
Bauchmensch, Kopfcineast mit ADS-Surroundsound

Hobbys
interessante Gedanken mit interessanten Menschen tauschen

Gänsehautmomente sammeln und kreieren

schöner scheitern – besser leben, noch besser lieben

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