„Vielleicht sollte Ihre Partnerin auch zur Abklärung kommen?“
Das war der Satz, der mein Leben für immer verändern sollte. Es war die Reaktion der Psychiaterin, als meine Partnerin sich in ihrer eigenen Abklärung mit den Worten zu verteidigen suchte: „Aber bei Sigrid ist das doch auch genau so!“
Einige Monate später, im zarten Alter von 45 Jahren, saß ich dann bei ihr in der Praxis und hielt sie in der Hand: meine Autismus- und ADHS-Diagnose. Schwarz auf weiß stand es da. Nein, nicht nur „ein klein wenig autistisch“, sondern „die Patientin erfüllt sämtliche Kriterien für die Diagnose eindeutig“.
Zwar hatte ich mich in der Zeit bis zur Abklärung intensiv mit dem Thema Autismus befasst (ADHS hatte ich noch gar nicht auf dem Schirm, diese Abklärung wurde dann auf Anraten der Psychiaterin spontan dazu gemacht), dennoch war ich ziemlich aufgelöst. Eine Mischung aus Erkenntnis und Erleichterung, aber auch Wut und Trauer überkam mich. Warum in aller Welt hatte das niemand bemerkt? Unzählige Fachkräfte, schwere Depressionen seit dem Kleinkindalter und zwei Burnouts später noch immer nicht der leiseste Verdacht. Warum habe ich selbst es nie bemerkt?
Diese Frage hatte ich tatsächlich laut gestellt, worauf meine Psychiaterin mich wohlwollend ansah: „Wie hätten Sie es denn bemerken sollen? Sie kennen es ja seit Geburt an nicht anders. Sie haben keinen Vergleich, sie waren nie nicht-autistisch.“
Diese Feststellung traf mich wie ein Schlag. In den nächsten Wochen dachte ich viel nach, über meine Vergangenheit und meine Identität. Ich musste erkennen, dass ich eigentlich, solange ich denken kann, immer stark maskiert habe. So sehr wollte ich es allen recht machen und dazugehören. Wer war ich eigentlich hinter dieser Maske?
Entsetzt stellte ich fest, dass ich keine Ahnung hatte, wer ICH eigentlich bin. Durch das jahrelange Maskieren hatte ich meine Identität völlig verloren. Wie ein Chamäleon hatte ich versucht, mich stets so gut wie möglich an die jeweilige Situation anzupassen. Nur ja nicht auffallen. Was mochte ich eigentlich? Was tat mir gut? Wo fing diese Maske an und wo begann mein eigentliches Selbst?
Ich begrub mich in Fachliteratur über Autismus und ADHS und verschlang alles, was ich zu dem Thema finden konnte. Schritt für Schritt trauerte ich um eine Kindheit, die ich nie hatte, um das, was hätte sein können, wäre die Diagnose denn schon im Kindesalter gestellt worden. Allmählich begann ich aber auch, die Maske abzuschälen und erlaubte mir immer mehr, so zu sein, wie ich nun einmal bin. Wenn man sich so lange angepasst hat, ist das gar nicht so einfach, trotz einer Partnerin, die mich jederzeit voll und ganz unterstützt hat auf diesem Weg und mein authentisches ICH akzeptiert. Zu lange hatte ich mir angewöhnt, Dinge einfach auszuhalten und mir selbst verboten, „Nerd-Dinge“ zu tun.
Im Drang, mich selbst besser zu verstehen, tauchte ich aber schließlich völlig ab in Fachliteratur und Studien. Neurodiversität wurde zu meinem Spezialinteresse. Ich versank in Texten und Überlegungen zu diesem Thema und merkte plötzlich: „Wow, das macht mir ja richtig Spaß. Und – ich kann andere mit meinen Erkenntnissen unterstützten“. Das war etwas, was mir bisher unmöglich schien. Ich entdeckte eine neue Entschlossenheit an mir, und in einem Anflug von Kühnheit wagte ich es sogar, einige bekannte Autismus-Koryphäen mit meinen Erkenntnissen zu kontaktieren. Ohne jede Hoffnung auf Antwort. Umso größer war die Überraschung, als ich tatsächlich Antworten bekam, wohlwollend, interessiert.
Plötzlich fand ich mich mitten in einer Welt voller Personen, die genau wie ich anderen Menschen so viele Jahre der Unkenntnis über die eigene Neurodiversität ersparen und ihren Alltag erleichtern wollten. Ich fasste Mut und begann, in puncto Ausbildung noch einmal zu recherchieren. Schon lange hatte ich eigentlich Psychologie studieren wollen, aber das war immer wieder an den Kriterien „Vollzeit“ und „vor Ort“ gescheitert. Tatsächlich fand ich sie aber, eine kleine Hochschule in Deutschland, an der ich nun online und Teilzeit Klinische Psychologie und Gesundheitspsychologie studiere.
Wenn ich zurückblicke auf die Person, die ich vor der Diagnose war, sehe ich jemanden, der festgefahren und eingesperrt war. Hineingepresst in eine Form, die schon lange nicht mehr passte und deshalb auch immer wieder unglaublich weh tat und unglaublich viel Energie kostete. Ich kann nicht sagen, dass ich unglücklich war, aber ich war nicht ICH, und es wäre wohl nur eine Frage der Zeit gewesen, bis das nächste Burnout mich wieder eingeholt hätte.
Obwohl die erste Zeit nach der Diagnose hart war, fühle ich mich heute dadurch befreit. Ich kenne mich und meine Bedürfnisse, meine Grenzen viel besser. Ich halte nicht mehr einfach nur alles aus, sondern erlaube mir Rückzug und ich selbst zu sein – meine Träume zu leben, und zwar so, wie es für mich gut, möglich und richtig ist.
Sigrid

Spektrum: Autismus, ADHS
Hobbies: Natur, Joggen, Musik, forschen (vor allem zu Autismus, ADHS, Sensorik, Hormone, Neurotransmitter, Aminosäuren, Gesundheit)