Stille

Vor acht Jahren brachte mich eine einschneidende Lebenskrise dazu, mein komplettes Leben zu überdenken. Dinge liefen nicht nach Plan und stifteten Verwirrung in meinem Dasein. Eine Vielzahl unüberschaubarer Hindernisse störten meinen gewohnten Rhythmus. Angst war so greifbar. Kontrollverlust, das Gefühl mich in einem Sog zu verlieren, unfähig die Gedanken zu sortieren. Panik, Hilflosigkeit und wachsender Unmut. Getriggert von einem Meltdown zum anderen. Suizidale Gedanken, die sich ihren Weg bahnen wollten. Doch wollte ich das? Und wenn nicht: War mein Wille zur Veränderung stark genug? Etwas musste geschehen. Etwas musste sich ändern. Doch wie? Wie macht man das?

Fragen tauchten auf:

  • Wo wollte ich hin?
  • Was musste ich ändern?
  • Wie viel Lebenszeit hat man eigentlich?
  • Wozu bin ich hier?

Diese Fragen, die innere Unruhe, trieben mich um. Wo findet man Antworten auf all die offenen Lebensfragen? Geht man einfach so zu Bekannten oder Freunden und beunruhigt diese mit solchen Sinnfragen? In meinem autistischen Sein war es keine Option, dies mit der großen Gemeinschaft zu diskutieren. Was würden die anderen von mir denken? Gelte ich dann als dumm? Schwach? Vielleicht mag ich deren Antwort nicht? Meine Umfeld denkt ja nun mal nicht wie ich. Ich mag auch nicht ständig wie der Creep erscheinen. Am Ende wollen die mich auf dem Jahrmarkt präsentieren. Freakshow. Es blieb also nur, die Antwort in meinem Inneren zu suchen. Doch wie geht das?

Da kam eines Tages – ich war zu dieser Zeit noch selbständig – eine buddhistische Nonne in meinen Laden. Mutig, den Kopf kahlgeschoren und diese orange-bordeaux-farbene Kleidung. Muss das so sein? Vorurteile machten sich in meinem Kopf breit. Nachdem ich die Nonne ausgiebig taxiert hatte, hörte ich ihre Worte. „Darf ich ein paar Flyer auslegen? Wir sind neu in Frankfurt und starten mit einigen spannenden Kursen.“
Klar, warum nicht. Stört ja nicht und auf dem Tresen ist noch Platz, neben den Flyer von Tierschutz und Kinderhospiz. Buddhismus kannte ich aus dem Fernsehen und aus Artikeln. Naja, ist ja nichts für mich. Die sitzen immer rum und sagen Oooomm. Mein Wissen eher rudimentär. Klar, Flyer auslegen geht!

Tage später, beim Wischen, nahm ich einen der Flyer zur Hand. „Jeder kann meditieren lernen und zur inneren Ruhe finden“, stand dort in großen Lettern. Bullshit! Die kennen mich nicht! Jeder!? Das Wort triggerte mich. Jeder … also auch ich? Bestimmt nicht! Ständig bin ich unruhig und unkonzentriert. Meine Gedanken verweilen nie lange an einem Ort.

Aber mein Team fand die Idee lustig, als teambildende Maßnahme das Tagesseminar zu besuchen. Die Kosten waren durchaus moderat. Und wieder Zweifel: Kann man für so wenig Geld was erwarten? Na gut, buchen und schauen. Wenn nicht, war es ein lustiges Erlebnis.

Eine Woche später fanden wir uns bei den Buddhisten ein. Zu meiner Überraschung gab es außer Kissen auf dem Boden auch Stühle. Gut, denn vom Boden wäre ich nicht mehr hochgekommen. Doch gedanklich sah ich mich nun auf dem Stuhl rumzappeln. Bestimmt würden die mich bald diskret aus dem Raum entfernen, damit ich die anderen nicht ablenke. Bis auf den letzten Platz war alles ausgebucht. Aha, es hatten wohl andere den Flyer auch bemerkt. Dann ging es los: Die Nonne sprach einführende Worte. Beruhigend in der Prosodie. Ich ließ es zu. Auf den Atem achten … hmmm … Mach ich doch immer oder etwa nicht?!

Der Gedanke arbeitete in mir und plötzlich wurde ich mir meines Atems bewusst. Dieser Tag veränderte mein Leben, meine Gedanken, mein Bewusstsein. Ich wurde mir meiner selbst bewusst. Irre! Und nicht nur das: Ich lernte, die Stille zu genießen. Von diesem Tag an wurde ich fester Bestandteil unserer Sangha (Gruppe). Ich fand in mir, in der Stille, die Antworten auf meine Fragen. Ich bin gelassener in meiner Art geworden. Rege mich selten auf. Meine Lebensqualität hat eine neue Dimension erreicht. Allein schon der Umgang mit der Natur, den Menschen und Tieren. Mittlerweile ist die Meditation ein fester Bestandteil meines Lebens. Täglich meditiere ich mindestens zweimal. Bin ich ein besserer Mensch geworden? Wohl kaum, aber ich gehe mittlerweile achtsamer mit mir und meinen Mitmenschen um. Lebe bewusster und intensiver. Und ich bin dankbar! Dankbar für das Leben mit allen Aufs und Abs.

Alexandra

Spektrum: Autismus

Hobbies:
Lesen: Psychologie, Krimi, Geschichte – Spannung muss sein!
meine Meditationsrituale
Rockmusik
Friedhöfe und Kirchen
Urvölker, deren Rituale und Wissen
Achtsamkeit