Mein Normalsein-Projekt

Ich wuchs in Belgien als Älteste von fünf Kinder auf. Ich konnte mich gut selber beschäftigen. Schon als Baby lag ich am liebsten am Boden, die Beine hochgezogen, und erzählte meinen Zehen Geschichten, stundenlang. Später lernte ich die Wörter aus den mir vorgelesenen Geschichten auswendig und beschäftigte mich dann damit, den Geheimcode der geschriebenen Sprachen zu entziffern. Das erste Halbjahr im Kindergarten habe ich fast ausschließlich im Büro des Schulleiters verbracht, weil mir die Klasse zu laut war. Auch später blieb ich die schüchterne Leseratte. 

Die soziale Interaktion überforderte mich. Schon früh wuchs in mir der Wunsch, nicht mehr reden zu müssen. Vielleicht kennst du dieses Gefühl, wenn du die leicht trockenen Lippen zusammendrückst und es scheint, als seien sie verklebt. Die kleine Sara glaubte fest, dass die Lippen, wenn sie nur den Mund lange genug so geschlossen hielt, zusammenwachsen würden, und sie also nie mehr reden müsste. Leider war sie immer zu neugierig oder zu hungrig, und ihre Versuche blieben erfolglos.

Mein mittlerer Bruder hingegen fragte seine Klassenkameraden nicht nach ihren Namen, sondern nach dem Modell ihres Computers oder Druckers, quatschte Lehrpersonen am einen Tag mit jeder Menge Details zur Raumfahrt voll und war am nächsten Tag enttäuscht, wenn sie beim Abfragen nichts mehr wussten. Ich schrieb für ihn Erstlesegeschichten zu seinen Spezialinteressen, damit er sich nicht mehr weigern würde, das Lesen zu üben. Wir verstanden uns bestens, alle sagten, wir seien uns ähnlich. Trotzdem galt er als Autist und ich nicht. Auch wenn er erst als Teenager abgeklärt wurde, da meine Eltern fest daran glaubten, dass alle Kinder akzeptiert würden, wie sie sind.

Aber zurück zu Miss Unauffällig. Schon in der ersten Hälfte der Primarschule begann ich, aktiv das Ziel zu verfolgen, normal zu sein. Ich wusste, dass ich es nicht war, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als es zu sein. Ich beobachtete und ahmte nach. Manchmal erfolgreich, manchmal weniger. So wie beim heißesten Thema, einen Jungen zu küssen. Ich fand Küssen eklig, konnte mir aber nicht vorstellen, dass es ekliger sein würde, als einen Kuss meiner Tante. Also packte ich meine Chance und küsste den unpopulärsten Jungen der Klasse. Das hatte aber nicht zur Folge, dass ich jetzt dazugehörte, sondern dass mich alle auslachten und behaupteten, wir seien ein Paar.

Und dann war da noch das Schulische. Meine Schulkarriere fing damit an, dass ich alles schon konnte, was da vorne gelehrt wurde. Als ich das am Ende der ersten Klasse – also nachdem ich ein Jahr vergeblich auf etwas Neues gewartet hatte – sagte, fand die Lehrerin, dass ich arrogant sei. Und ich speicherte zwei Regeln ab: Wenn ich sage, was ich weiß, gelte ich als arrogant. Und: In Wahrheit bin ich schlecht, und das muss ich verstecken.

Schon bald gab es ein weiteres Problem: Ich machte Fehler! Das war schwer auszuhalten, vor allem weil ich nicht daraus lernen konnte, sondern immer die gleichen Dinge schwierig blieben für mich. Weil es immer wieder hieß, dass ich mir nicht genug Mühe gegeben hätte, war ich überzeugt, ich sei nicht nur schlecht, sondern auch faul. Und jeder Fehler, den ich machte, landete auf dem Haufen der schließlich erdrückenden Beweislast meiner Faulheit.

Um diese zwei Prioritäten sollte sich mein Leben ab jetzt immer mehr drehen: Den Versuch, normal zu sein und keine Fehler zu machen. Mehrmals in meinem jungen Leben wurde die Situation unerträglich. Wechsel im sozialen Umfeld und eine neue Fachrichtung in der Ausbildung brachten kurzfristig Erleichterung, die Chance, mich integrieren zu können und Fehler zu akzeptieren beim schwierigen Schulstoff. Aber schon schnell holte mich alles wieder ein, wurde die Einsamkeit wieder größer und musste ich wieder Prüfungen leer abgeben, weil nichts zu schreiben akzeptabler war, als einen Fehler zu machen.

Der Schulpsychologische Dienst machte einen IQ-Test mit mir mit dem Ergebnis, dass alle Schwierigkeiten davon kämen, dass ich hochbegabt sei. Ich sollte mich in einem Forum für hochbegabte Jugendliche anmelden. Das tat ich. (Mehr als die Hälfte der Leute, die sich damals dort tummelten, haben wahrscheinlich heute eine Autismusdiagnose.) Damit war das Problem für die Schule erledigt. Für mich aber nicht wirklich.

Ich entwickelte ein Interesse für andere Kulturen. Ich machte zuerst einen Kurzaustausch in Afrika, und später ein Austauschjahr in der Türkei. Während andere einen Kulturschock erlitten, fühlte ich mich an fremden Orten wohl. Interkulturelles Lernen konnte ich auf meine Situation anwenden, und durch das Erlernen von neuen Sprachen, was mir leichtfiel, konnte ich leichter Kontakte knüpfen.

Um dieser Zeit machte ich leider auch meine ersten sexuell unangenehmen Erfahrungen. Mir fehlten die Skripte für solche neuartigen sozialen Situationen komplett. Dabei war ich schon in bekannten Situationen zu langsam in der Verarbeitung und gleichzeitig überreizt, so dass ich mich nicht mehr rechtzeitig daraus retten konnte. Im Nachhinein machte ich mir immense Vorwürfe: Ich hatte die gleiche Sexualkunde erlebt wie die anderen Frauen meines Alters, und trotzdem schafften es alle, safe zu bleiben, nur ich nicht! Es konnte doch nicht so schwierig sein, im richtigen Moment das Richtige zu sagen.

Daneben war es das Thema Job, dass mir schon lange Sorgen bereitete. Es gab einfach nicht wirklich einen Beruf, von dem ich mir vorstellen konnte, dass ich die Arbeit tatsächlich leisten könnte. Ich studierte Physik, weil die anderen fanden, ich sei gut darin. Ich konnte mir innerhalb eines beschränkten Gebietes Wissen aneignen, das ging. Aber ich wusste, dass ich den dazugehörigen Job nie machen können würde. Überhaupt geht es doch in jedem Job um Kommunikation. Oder darum, irgendwelche Entscheidungen zu verteidigen, die nicht hundertprozentig auf Fakten basieren.

Ich war inzwischen schon mehrere Jahre mit meinem damaligen Freund zusammen. Ganz im Rahmen meines Normalsein-Projektes hatte ich ihn an der Uni kennengelernt, und wollte ihn jetzt heiraten. Das war vielleicht die Lösung: Kinder bekommen! Versteh mich nicht falsch, ich war schon in ihn verliebt, so berechnend bin ich wirklich nicht. Es gab aber auch mehrere Dinge, die nicht so wirklich passten, nach Jahren in meinem Normalsein-Projekt war ich mir überhaupt nicht mehr sicher, was mir wichtig war, und ob ich überhaupt eine eigene Meinung hatte.

Ich war mit diesem Freund in die Schweiz gekommen und hatte meine Doktorarbeit angefangen in der Hoffnung, dass das noch am ehesten das sei, was ich konnte. Nach einer Weile verbrachte ich die Zeit meiner Forschung mehrheitlich verängstigt unter dem Labortisch, statt davor. Das Kinderprojekt nahm seinen Lauf, aber ich war mir so unsicher, dass ich nach jedem Geschlechtsverkehr den Drang unterdrücken musste, in der Apotheke die „Pille danach“ zu holen. Nicht, weil ich kein Kind bekommen wollte, sondern weil ich einfach nicht mehr wusste, wer ich war, und ich spürte, wie mir das Normalsein-Projekt immer mehr aus den Fingern glitt.

Dann kam ein neuer Mitarbeiter zu uns an die Uni. Er nahm mich mit in eine Informatikvorlesung, weil er dachte, das könnte was für mich sein. Tatsächlich hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, etwas zu finden, was ich als Job machen könnte. Ich brach meine Doktorarbeit ab und begann ein Informatikstudium. Gleichzeitig sprach ich mit diesem neuen Mitarbeiter erstmals darüber, dass mein Bruder Autist ist und ich wie er bin, wenn auch anderes. Könnte ich auch im Spektrum sein?

Ich liess mich scheiden. Ich ging in Psychotherapie. Es war alles richtig. Trotzdem wurde mein Zustand schlimmer, denn ich musste das Normalsein-Projekt aufgeben. In diesem Projekt hatte ich fast nie Meltdowns gehabt, weil die ja nicht normal sind, aber jetzt konnte ich sie nicht mehr zurückhalten. Und der Job in der Informatik war dann doch überfordernder, als ich gedacht hatte. Auch war es immer noch ein Riesenproblem, dass ich keine Fehler aushalten konnte.

Das alles führte in eine erzwungene Pause. Ich als Informatikerin schaltete mehrere Monate lang nicht einmal mehr den Computer an, und durfte auch die Notfallpsychiatrie kennenlernen. Den Halt in meinem Leben musste ich mir nach und nach wieder erarbeiten. Meine größte Errungenschaft dabei war zu akzeptieren, dass ich nicht für alles genug Energie habe. Auch nicht in meinem neuen Leben, in dem ich mein eigenes Tempo gehe. Es ist nicht das Tempo, das ich mir gewünscht habe, und auch nicht das, was normal ist. Aber es ist das, was richtig ist, weil es mir erlaubt, glücklich zu sein.

Sara

Spektrum: Autismus

Hobbies: Lesen, wandern, joggen, nähen, sketchnoten